Thomas Mann & Johannes R. Becher - Ansprachen Zum Schillerjahr 1955

Thomas Mann & Johannes R. Becher - Ansprachen Zum Schillerjahr 1955

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Thomas Mann & Johannes R. Becher - Ansprachen Zum Schillerjahr 1955

Bodo Uhse
Die Schillerfeiern, die im Mai 1955 in Weimar aus Anlaß des 150. Todestages des Dichters der „Räuber", des „Don Carlos", des „Wilhelm Teil" und des „Wallenstein" stattfanden, waren Feiern besonderer Art. Ein Fest der „Grablegung und Wiederauferstehung" nannte sie Thomas Mann. Und um eine Wiederauferstehung Schillers handelte es sich in der Tat.
Kam es doch, nach einem Wort Johannes R. Bechers, darauf an, „ein Bild Schillers zu entwerfen, wie es der historischen Wirklichkeit gemäß ist" und „sein Werk von allen Mißdeutungen zu befreien".
Allzulange waren die Gestalt Schillers, der Inhalt seines Werkes dem deutschen Volke in fratzenhafter Verzerrung dargestellt worden. Aus dem idealischen Dichter der Nation und der Menschenfreiheit hatte man einen nationalistisch bramarbasierenden Autoritätsprediger gemacht. Allen tapferen Bemühungen der besten Geister des Vormärz und später der deutschen Arbeiterbewegung von Engels bis zu Mehring zum Trotz sperrte die Reaktion Schiller in eine nationalistische Zwangsjacke, mißbrauchte sie sein Werk auf das Roheste. In unmittelbarster Nähe seiner letzten Wohn- und Grabstätte entstand Buchenwald,
Die Befreiung Schillers aus dieser dunklen, seine wahren Züge diabolisch entstellenden Verfärbung war ein dringend notwendiger Akt der Selbstbefreiung des deutschen Volkes. Schillers Bild in seiner komplexen Realitätwiederherzustellen, war die Aufgabe der Weimarer Festtage: Der große deutsche Dichter, Humanist voll sehnsüchtiger Vaterlandsliebe, für die Menschheitsbefreiung schwärmender Patriot, bemüht, ein deutsches Nationaltheater zu schaffen, ringend mit der deutschen Misere und sie in seinen genialischen Schöpfungen überwindend.
In diesem Bemühen, Schiller den Deutschen wiederzugeben, vereinten sich in den Weimarer Maitagen 1955 zwei einander ebenbürtige Geister, schöpferische Naturen, sehr verschieden in ihrer Statur und Anlage, ihrem Temperament nach, auch was ihren Lebensgang und ihr Wirkungsfeld betraf recht unterschiedlich, aber beide wieder, freilich auch auf sehr unterschiedliche Weise mit der Bürde kultureller Repräsentation des Deutschen bedacht.
Thomas Mann und Johannes R. Becher hielten die Festansprachen.
So verschieden die Beziehung der beiden zu Schiller ist, verbindet sie doch das gemeinsame Anliegen, dem sie sich freilich auf getrennten Wegen nähern.
Johannes R. Becher, dessen dichterisches Werk in engster Verknüpfung mit demLeiden, Leben und Kampf der deutschen Arbeiterklasse entstanden und gewachsen ist und dessen schöpferischer Anteil am Heraufkommen einer neuen deutschen Kultur auf der Grundlage sozialistischer Gesellschaftsordnung ihn auf die Stellung eines Ministers für Kultur der Deutschen Demokratischen Republik geführt hat, sieht Schillers Werk und Bemühung — Frucht nahezu über menschlichen Ringens — als Erbe und Aufgabe, als Besitz, der  erst  zu   erwerben ist.
Johannes R. Becher hat aus der Rede wieder eine Kunstform gemacht. Was er vorträgt mit seiner den weiten Raum des Weimarer Nationaltheaters ausfüllenden getragenen Stimme ist nicht nur an den Kreis seiner Hörer gerichtet. Dichter und Staatsmann in einem, wendet er sich an die Nation, der er in feierlicher Form und ohne falsche Intimität, selbst um die Beziehung zu Schiller ringend, am Beispiel des Dichters der Nation und der Menschenfreiheit die ,,Macht der Poesie" demonstriert.
Anders steht es mit Thomas Mann, dem großen Erzähler, der des Bürgertums beste Traditionen in die Schilderung seines Verfalls als kritisches Element hineingetragen hat. Seine Vertrautheit mit Schiller ist ganz persönlicher Art. Sein „Versuch über Schiller", den der 80jährige im Weimarer Nationaltheater vorträgt, schließt einen Kreis, den Thomas Mann ein halbes Jahrhundert zuvor mit seiner im Grunde autobiographischen Schillernovelle „Schwere Stunde" geöffnet hatte. Dies ist keine Rede, keine Ansprache, sondern sanft ironische Schilderung und heißherzige, abwägende Betrachtung, die voller dialektischen Gehalts ineinanderfließen. Unvergeßlich ist mir der Eindruck:
Man hatte versucht, die breite, riesige Bühne behaglich einzurichten. An der Seite das Stehpult für die Begrüßungsrede, daneben in der Bühnenmitte ein runder Tisch, das sanfte Licht einer Stehlampe darauf und — halb im Schatten — ein bequemer Stuhl für den Vortragenden. Der aber verschmäht die Bequemlichkeit. Stehend, so will es die Achtung vor dem Genius Schillers, stehend liest der Achtzigjährige, was er über Schiller uns zu sagen vorbereitet hat.
„Am Himmel ist geschäftige Bewegung, des Turmes Fahne jagt der Wind, schnell geht der Wolken Zug, die Mondessichel wankt, und durch die Nacht zuckt ungewisse Helle. Kein Sternbild ist zu sehen. — So war die Nacht, die Mainacht vor hundertfünfzig Jahren, als durch die schlummernden, wie ausgestorbenen Gassen Weimars . . . Schillers sterbliche Hülle zu Grabe getragen wurde ..."
Mit diesen — mir schon bekannten — Worten beginnt er, zuersthüstelnd, dann gleichmäßiger sprechend mit einer Stimme, die etwas farblos ist, ja schon einen gebrochenen Ton hat. Den Essay habe ich gelesen ; ich horche, und zwar angespannt, denn es gibt viel Husten und Räuspern im Saal, und die Stimme ist recht schwach; ich vergleiche die lebendigen Worte mit dem in der Erinnerung stehenden Text.
Die Stimme festigt sich beim Lesen, läßt zarte Klange Schiller-schen Pathos' ertönen, wird nüchtern bei einem ironischen „Gott behüte!", und der kleine, hinter dem hohen Lesepult fast ganz verschwindende große Mann begleitetseine Wendungen, deren Syntax ihm anfangs selber hier und da Schwierigkeiten bereitet, gelegentlich mit schüchternen unterstreichenden Gesten. Er streckt den rechten Arm mit der geöffneten
Hand ein wenig vorwärts: So seht und nehmt es, nehmt es auf, das Wort.
Ja, wie anders steht es nun vor mir, da es nicht nur in schwärzlich-grauen Schriftzeichen vor den allzu flüchtigen Augen flimmert, sondern durch das Ohr dringt. Ein heiserer, rauher, krächzender Wohllaut. Er wird lebendiger und tiefer, wird plastisch. Eine Entdeckungsreise — dieses Zuhören. Erst jetzt geht mir der ganze Sinn auf — wie ist da ohne viel Worte eben doch vom Vaterländischen die Rede, und dabei wird nur von der Kunst gesprochen, von Not und Mühe und Bewältigung. —
Der Redende ermüdet nicht. Sein Gesicht ist schmal, der Haarschnitt — sehr kurz bis auf den noch schwarzen Scheitel (er hat etwas militärisch Preußisches, erinnert mich in der Tat an den Haarschnitt meines Vaters) — zeigt die schmale, hohe Stirn, aus der die Adern an den Schläfen stark hervortreten. Die Augen sind von den funkelnden Brillengläsern verborgen. Klotzig springt die Nase aus dem Gesicht, der Mund verbirgt sich in ihrem Schatten. — Am Schluß der Rede kommt ein kleines Wunder. Hier muß ich wohl gestehen, daß ich diesem Schluß mit Sorge, mit einer gewissen Beängstigung entgegengesehen habe, jenem Satz, in dem von der „von Verdummung trunkenen, verwahrlosten Menschheit" die Rede ist, die „ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergang entgegentaumelt". Oh, ich fürchte ihn, spüre Herzklopfen, da es ihm entgegengeht. Und da geschieht das Wunder. Nicht, daß er uns den Satz erspart hätte, nein, geschenkt wird nichts. Aber wie bewegend und — kein anderer Ausdruck läßt sich dafür finden — wie erhebend   fügen   sich   die   abschließenden    Worte   daran:
.....das  immer zerrissene deutsche Volk in  geschlossener
Einheit durch ihn, seinen Dichter. Es war ein nationales Fest, und das sei das unsrige auch. Von seinem sanftgewaltigen Willen gehe durch das Fest seiner Grablegung und Auferstehung etwas in uns ein: von seinem Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht der Menschheit vor sich selbst."
Lang währt der Beifall, und der Dichter, ein trotz aller Würde und allen Selbstbewußtseins bescheidener Mensch, geht etwas unsicher, mit kleinen, sehr natürlichen und keineswegs greisenhaften Schritten, Schritten, die mir auf eine merkwürdige Weise ans Herz gehen, über die Bühne, er verneigt sich, verneigt sich ein zweitesmal sehr tief mit weit ausgebreiteten Armen, wie ein Sänger, ein Schauspieler, wie ein Künstler eben vor seinem Publikum.


Am Himmel ist geschäftige Bewegung,
Des Turmes Fahne jagt der Wind, schnell geht
der Wolken Zug, die Mondessichel wankt,
und durch die Nacht zuckt ungewisse Helle.
Kein Sternbild ist zu sehn —

Thomas Mann - Ansprache zum Schillerjahr 1955

So war die Nacht, die Mainacht vor 150 Jahren, als durch die schlummernden, wie ausgestorbenen Gassen Weimars Schillers sterbliche Hülle zu Grabe getragen wurde. Es gab kein schreckhaft mitternächtliches Läuten, das dumpf und schwer die Trauertöne schwellt. Die Glocken schwiegen. Es schwieg die Glocke seines das Menschenleben umspannenden Liedes, deren Trauerschläge einen Wanderer auf dem letzten Weg begleiten. Nichts hörte man als die schleppenden Tritte der Männer, die sich zum düsteren Liebesdienst zusammengefunden und die dann und wann ihre Last, die Bahre, den billig gezimmerten Sarg darauf, niedersetzten zu Rast und Ablösung.
So langte man an beim alten Friedhof, an dessen Mauer, gleich rechts vom Eingang, das sogenannte Kassengewölbe lehnte; dort übernahmen der Totengräber und seine Gehilfen den Sarg, auf den einen Augenblick der Schein des aus eilenden Wolken tretenden und gleich sich wieder verbergenden Mondes fiel.
Verweilten die Träger noch ein paar Minuten entblößten Hauptes und in stillem Gebet um die Falltür der Gruft, bevor sie gingen? Ich denke mir's. Jedenfalls war dies das ganze Begängnis. Man liest, so ohne Umstände sei es brauchweise zugegangen damals in Weimar bei Bestattungen, und am nächsten Tag erst sei immer die kirchliche Aussegnung des Verstorbenen, die sogenannte Kollekte, erfolgt. Sie fand statt am Nachmittag dieses Zwölften, hob sich jedoch durch besondere Feierlichkeit nicht hervor, da weder der Herzog, noch Goethe, der leidend war, und dem man wohl 24 Stunden lang den Tod des Freundes verhehlte, dabei zugegen waren. Nun, — der O rt der Beisetzung, wenigstens, war dem gesellschaftlichen Range des Verblichenen, des Herzogl. Meiningischen Hofrats von Schiller gemäß. Nur die Relikte vornehmer Personen waren im „Kassengewölbe" zugelassen. Doch ist zu sagen, daß diesen Herrschaften unter dem Rasen des allgemeinen Totenackers ein besserer Platz bereitet gewesen wäre als hier. Feuchtigkeit drang durch die Mauern und den Boden und bewirkte ein solches Durcheinander der Auflösung, daß später, als summarische Ausräumung bevorstand, die Pietät größte Mühe hatte, gewisse Reliquien aus dem Wust der Vernichtung zu klauben.
Die Männer standen, seufzten und gingen. Hörten sie wohl in das Sausen und Knarren des Windes leisen, holden Gesang sich mischen, die Elfenstimmen eines Geisterkreises, der das Grufthaus umschwebte?
,,Nur der Körper eignet jenen Mächten, Die das dunkle Schicksal flechten; Aber frei von jeder Zeitgewalt, Die Gespielin seliger Naturen, Wandelt oben in des Lichtes Fluren Göttlich unter Göttern die Gestalt."
Dieser war schon erstanden. Der Schmach der Materie entrückt, umflossen von männlicher Idealität, idealischer Männlichkeit, kühn, feurig und sanft, mit dem Heilandsblick, den Sternen das königliche Antlitz zugewandt, so war seine Gestaltin dieser Stunde der Grablegung schon — und für immer — der vertraulichen Liebe ihres Volks, der Rührung der Menschheit in Verklärung aufgerichtet. Sie zu feiern, diesem in Lichtesspuren wandelnden Beglückergeist zu huldigen sind wir versammelt — und wie denn nun? Wer bin ich, daß ich das Wort
führen soll zu seinem Preis, vor meinen Augen die Gebirge kundiger Erörterungen seines Lebens und Bildens, welche in anderthalb Jahrhunderten die gelehrte Forschung aufgetürmt hat? Es ist wahr: ganz scheu und verlegen, ganz unwürdig, sich seinem Geiste festlich zu gesellen, darf kein Künstler sich fühlen, denn dieser Geist war und ist die Apotheose der Kunst. Er hat sie verherrlicht in glänzenden Taten und dazu in hochgewählten, hoch-genauen Worten, in denen noch der Letzte seiner Gattung die eigene Not, das eigene Glück mit bescheidenem Stolze wiedererkennt.
,,Wenn, das Tote bildend zu beseelen, Mit dem Stoff sich zu vermählen, Tatenvoll der Genius entbrennt, Da, da spanne sich des Fleißes Nerve, Und beharrlich ringend unterwerfe Der Gedanke sich das Element.
Aber dringt bis in der Schönheit Sphäre,
Und im Staube bleibt die Schwere
Mit dem Stoff, den sie beherrscht, zurück.
Nicht der Masse qualvoll abgerungen,
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen,
Steht das Bild vor dem entzückten Blick."
Wie ist das gesagt! Wie verbindend leiht es Sprache, pathetisch, aber exakt, dem Trachten und der Erfahrung jeder artistischen Existenz! Zudem, wie hat er in einer anderen Strophe seines grandiosen Künstlergedichts die Verkindlichung, das irdische Zugänglichwerden des Höchsten gefeiert! — Und v/er wollte denn auch in Schillers Wesen, bei allemtiefbemühten, heiligen und mit enormem Scharfsinn ausgestatteten Ernst, der ihm eignet, das Kindliche verkennen, die edelmütige Naivität, die so manches Mal ein verehrendes Lächeln auf die Lippen lockt, da sie doch unablöslich seiner spezifischen und ganz unvergleichlichen Größe angehört, — einer Großheit, generös, hochfliegend, flammend, emporreißend, weltallstrunken und menschheitlich-kulturpädagogisch, männlich in allem aufs höchste. Aber das Lächeln, das wir uns gelegentlich zu verbeißen haben vor Schillers Grandiosität, gilt einem Ewig-Knabenhaften, das zu ihr gehört, dieser Lustam höheren Indianerspiel, am Abenteuerlichen und psychologisch Sensationellen, ungeheuerer Tugend und erhabenem Verbrechen, am „Pitaval", an Jesuiten-Intrigen, Inquisition, Bastille und Opfer des Glücksspiels... Es ist da ein phantastischer Hang zum Planen großer Geschäfte, ein beständiges Anregen weitgespannter Unternehmungen, ein Wälzen spekulativer Ideen. Ja, ganz zuletzt, kann man das einem Tollhause. Rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie, fremde Menschen fallen einander schluchzend in die Arme, Frauen wanken halb ohnmächtig zur Tür — so geht es zu im Saal; das heißt: es zeigt sich, daß allem, was mit dem Stück geschehen, ein tief inneres ,,Und doch", „Nur zu", ,,Macht, was ihr wollt" entgegengestanden hat. Es ist beraubt, zehnmal abgeschwächt, kastriert, verschandelt, in eine ihm fremde Epoche zurückversetzt, denaturiert, aber es gibt das Beispiel ab einer immanenten, eingeborenen, nicht umzubringenden Dynamik, die den ängstlichsten Maßnahmen widerstand und sich intakt gehalten hat bis auf den heutigen Tag.
Nicht nur den „Räubern" gehört sie an. Ich habe „Kabale und Liebe" nach dem ersten Weltkrieg in München — die Räterepublik war gerade gefallen — vor einem äußerst bürgerlichen, äußerst rückschlägig-konservativ gestimmten Publikum in mittelmäßiger Aufführung gesehen und es erlebt, daß dieses Publikum durch den Atem des Werkes in eine Art von revolutionärer Rage versetzt wurde. Es wurde zum Schiller-Publikum, wie noch ein jedes es geworden ist vor seinen Stücken.
„Kabale und Liebe" reicht als Idee noch in die Stuttgarter Zeit zurück, und zwar in die Tage des Arrestes, mit dem der Dichter vom Herzog für das unbefugte Verlassen seines Postens zum Besuch der „Räuber" in Mannheim bestraft wurde. Aber ebenfalls schon aus dem Stuttgarter Arrest hat erbrieflich verlauten lassen, „Don Carlos, Infant von Spanien" werde der nächstzubehandelnde dramatische Gegenstand sein. „Don Carlos", — wie könnte ich je die erste Sprachbegeisterung meiner fünfzehn Jahre vergessen, die an dem stolzen Gedicht sich entzündete! —
„Sagen Sie Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird, Nicht öffnen soll dem tötenden  Insekte Gerühmter besserer Vernunft das Herz Der zarten Götterblume — daß er nicht Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit Begeisterung, die Himmelstochter, lästert. Ich hab' es ihm zuvor gesagt —"
Was gibt es Schöneres, Edleres, Herzbewegenderes? Das ist kein Rhetor nur und „Moraltrompeter", das ist ein Dichter, der das Auge zu feuchten vermag, während er zugleich das Herz erbittert gegen das Unmenschliche.
Schillers Sprache — es käme ihr eine eigene Betrachtung und eingehende Studie zu, angefangen mit seinen hochpointierten Schlüssen, diesem „Dem Mann kann geholfen werden", „Dem Fürsten Piccolomini", „Der Lord läßt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich", die untereinander verwandt und so ganz ihm eigen sind. Im übrigen sind die herrscherliche Virtuosität, mit der Schiller dem Jambus gebietet, der noble Wohlklang und Glanz, den er ihm verleiht, ohnegleichen. Er behandelt ihn mit souveräner Freiheit; es kommt ihm nicht darauf an, ihm sechs oder sieben Füße zu geben, statt fünfen, oder ihn auf die Hälfte abzukürzen oder das Silbenmaß aus den Fugen gehen zu lassen, wie in Theklas Klage um Max:
„Und wirft ihn unter den Hufschlag seiner Pferde —"
Talbots berühmtes „Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens" beginnt ungeniert mit einem Anapäst. — Drastische Realismen finden sich, die ebenfalls virtuos wirken und den hohen Ton äußerst wirksam verleugnen, so, wenn etwa Wallenstein sagt: „Und — wohl erwogen, ich will es lieber doch nicht tun." Oder: „Prag! Sei's um Eger! Aber Prag? Geht nicht." Oder Max Piccolomini: „Es kann nicht sein, kann n ic ht sein, kan n nicht sein! Siehst du, daß es nicht kann!" Oder Octavio zu ihm: „Max! Folg  mir lieber gleich, das ist doch besser."
Kein Zufall, daß diese Beispiele dem „Wallenstein" entnommen sind; denn das Riesenwerk, das ihm die schwerste ästhetische Sorge gemacht hat, und über dessen kaum zu klärender und zu formender Stoffmasse er am längsten gebrütet, hat seinen ganz eigenen, von dem all seiner anderen Gedichte verschiedenen Stil und Ton.
Vor fünfzig Jahren habe ich in einer kleinen Novelle den kranken Dichter bei nächtlich-schwerem Ringen mit dem gewaltigen Vorwurf gezeigt, und das war in seiner Beschränkung auf eine einzige Stunde seines heroischen Lebens eine leichtere Aufgabe als diese Rede hier, die notwendig so vielem Verzicht unterworfen ist. Ich kann sein prangendes Werk, das in „Wilhelm Teil" das Seltenste, nämlich klassische Popularität, erreicht, nicht durchgehen, wie ich möchte. Nur sagen kann ich, daß es als moralische Leistung womöglich bewundernswerter noch ist denn als künstlerische. War es doch nicht das Produkt strotzender Vitalität, sondern abgewonnen der Krankheit und Schwäche, der sein Freiheitspathos keinen Einfluß auf sein schöpferisches Gemüt gestatten wollte.
„Er hatte früh das strenge Wort gelesen, Dem Leiden war er, war dem Tod vertraut."
Aber der Tod spendete hier Leben, Schönheit, Beglückung, die Kümmerlichkeit Glanz und  Pracht, das Leiden Erhebung und Freude.  Desto schmerzlicher ist es, zu  lesen, wie ein rauher   April   ihm   denn   doch   „alle   Lust  am   Denken   und Schreiben verdirbt", wie schlimme Novembertage „alle seine Übel rege machen, so daß selbst die Arbeit ihn nicht erfreut", — die Arbeit, die ihm doch alles ist, ihm, dem fleißigsten der Dichter! „Die Hauptsache", heißt es in einem Brief, „ist der Fleiß; denn dieser gibt nicht nur die Mittel des Lebens, sondern er gibt ihm auch seinen alleinigen Wert." Es ist fast nicht zu glauben, daß er unmittelbar nach Bezwingung des „Wallenstein", ohne die geringste Ruhepause einzulegen, den alten Plan  der „Maria Stuart" wiederaufnimmt und das Stück im Lauf eines  Jahres  vollendet.  Als er auch  damit fertig  ist, schreibt er:   „Ich  befinde  mich  nie  besser,  als  wenn  mein Interesse an einer Arbeit recht lebendig ist. Habe auch deswegen  schon  zu  einer neuen  Anstalt gemacht."   Wozu  er Anstalt macht, ist  „Die Jungfrau von Orleans". Tröstlich auf eine Art ist es zu wissen, daß er nicht nur die hohe  Fron  des Hervorbringens,  daß er menschliches Glück gekannt hat an  der Seite einer lieben  Frau.  „Was für ein schönes Leben führe ich jetzt", heißt es, als Charlotte von Lengefeld die Seine geworden. „Ich sehe mit fröhlichem Geist um mich her, und mein Herz findet eine immer währende sanfte Befriedigung  außer  sich...   Mein   Dasein   ist  in   eine   harmonische Gleichheit gerückt; nicht leidenschaftlich gespannt, aber ruhig und hell gehen mir die Tage dahin ..." Wie wohl tut es, das zu lesen! Wie wohl, den ewig Rastlosen, Geistgetriebenen, das erhabene Stiefkind des Lebens, der von sich sagte:   „Was  ich   bin,   bin   ich   durch   eine  oft  unnatürliche Spannung meiner Kraft", einmal entspannt, einmal im Zustand sanfter   und   heiterer   Befriedung   zu   sehen!   Vorher   einige meist recht instinktlose und auf Enttäuschung hinauslaufende Anfechtungen und Ergriffenheiten von seifen des anderen Geschlechts, und dann mit einunddreißig Jahren der Friede mit ihm, der Hafen der Ehe. In diesem unlyrischen  Leben spielt das Erotische keine schöpferische, Epochen bildende Rolle. Es   gibt   darin   kein   Sesenheim,   kein   Wetzlar,   keine   Lida, Marianne   und   Ulrike.   Die   Polarität   der   Geschlechter  vergeistigte sich ihm, wie alles das tat.  Das große Abenteuer seines Daseins, seine Erfahrung der Passion, der leidenschaftlichen   Anziehung   und   Abstoßung,  der tiefen   Feindschaft, tiefen Sehnsucht und Bewunderung, des Gebens und Nehmens, der Eifersucht, des schwermütigen Neides und stolzer Selbstbehauptung, der dauernden affektvollen Spannung — war eine Angelegenheit zwischen Mann und Mann, zwischen ihm, dem ganz Männlichen, und jenem, dem er weibliche Artung zusprechen wollte, — es war sein Verhältnis zu Goethe. Unbegreiflich, daß, wenn von Schillers Lyrik die Rede ist, so selten des unsäglich ergreifenden Gedichtes in Distichen erwähnt wird, worin er wahrhaft einmal Lyriker, und das mit Abstand sein tiefstgefühltes, in seiner erhabenen Resignation sein allerschönstes ist: „Das Glück", diese Seligpreisung dessen, den die gnädigen Götter vor der Geburt schon liebten, und den als Kind Venus im Arme gewiegt.
„Welchem  Phöbus die Augen, die Lippen Hermes gelöset Und das Siegel der Macht Zeus auf die Stirne gedrückt! Ein erhabenes Los, ein göttliches, ist ihm gefallen, Schon vor des Kampfes Beginn sind ihm die Schläfen bekränzt. Ihm ist, eh' er es lebte, das volle Leben gerechnet, Eh' er die Mühe bestand, hat er die Charis erlangt."
Und dann er selbst:
,,Groß zwar nenn' ich den Mann, der, sein eigner Bildner und
Schöpfer, Durch der Tugend Gewalt selber die Parze bezwingt; Aber nicht erzwingt er das Glück, und was ihm die Charis Neidisch geweigert, erringt nimmer der strebende Mut. Vor Unwürdigem kann ihn  der Wille, der ernste bewahren, Alles Höchste, es kommt frei von den  Göttern herab. Zürne dem Glücklichen nicht, daß den leichten Sieg
ihm die Götter Schenken, daß aus der Schlacht Venus den Liebling entrückt! Zürne   der  Schönheit   nicht,   daß   sie   schön    ist,   daß   sie verdienstlos Wie der Lilie Kelch  prangt durch der Venus Geschenk. Laß sie die Glückliche sein, du   schaust sie, du  bist der
Beglückte, Wie sie ohne  Verdienst glänzt,  so  entzücket sie  dich ..."
Ich gebe Anthologien erotischer Lyrik daran für dies Liebesgedicht des Geistes, des Willens, der „Mühe", der Tugend ans verdienstlos Göttliche, des Schauenden an das Seiende. Und Goethe? Gewiß: Er hat Bewunderung gegen Bewunderung gesetztund mitZwischengefühlen kopfschüttelnder Abneigung den anderen geliebt, — es ist kein Zweifel. Und doch und trotzdem, scheint es nicht, als hätte er zu Schillers Lebzeiten nicht ganz gewußt, was er an ihm besaß? Nichts findet sich
damals in seiner Dichtung, was an tiefem Gefühl für den Freund dem Sänge vom ,,Glück" entspräche. Doch spät, im zweiten Teil des „Faust", in der Chiron-Szene, wo vom „hehren Argonautenkreise" die Rede ist, findet es sich auf einmal, verhüllt, aber schwerlich zu verkennen.
„So wirst du  mir denn doch gestehn: Du hast die Größten deiner Zeit gesehn,
Doch unter den heroischen Gestalten
Wen hast du für den Tüchtigsten gehalten?"
Der Kentaur nennt sie alle, von denen „jeder brav war nach seiner eigenen Weise", und Faust fragt:
„Von Herkules willst nichts erwähnen?"
Die Antwort:
„O weh!  Errege nicht mein Sehnen! Ich hatte Phöbus nie gesehn, Noch Ares, Hermes, wie sie heißen; Da sah ich mir vor Augen stehn, Was alle Menschen göttlich preisen. So war er ein geborner König ..."
Wer ist dieser Herkules? Man glaubt es zu wissen, man weiß es. Und daß Goethe den verewigten Freund im Bilde des Herkules, des zu den Göttern erhobenen Mannes der zwölf Taten sah, läßt vermuten, daß er von dem Traume wußte, den Schiller lange gehegt hat: dem Traum einer olympischen Idylle, die dem Dichter „als Höchstes" vorschwebte. In keiner seiner Aufzeichnungen, so viel ich sehe, ist sie erwähnt. Das Motiv klingt an in der Schlußstrophe von „Das Ideal und das Leben". Aber wie tief ihn nach seiner Ausführung verlangte, lehrt ein Brief an Wilhelm von Humboldt, worin — dieses einzige Mal — in hingerissener Mitteilung von jenem Arbeitstraum die Rede ist: im Jahre 1795, zehn Jahre noch vor des Dichters Tode. Für mich ist es die merkwürdigste, die enthüllendste und ergreifendste Stelle aus allen seinen Briefen. Von einer poetischen Darstellung spricht er da, — „alles Sterbliche aufgelöst, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen— keinen Sc hatten, keine Schranke, nichts von dem allen mehr zu sehen ... Eine Szene im Olymp darzustellen, welcher höchste aller Genüsse! Ich verzweifle nicht ganz daran, Wenn mein Gemüt nur erst ganz frei und von allem Unrat der Wirklichkeit recht rein gewaschen ist; ich nehme   dann   meine ganze Kraft und den ganzen ätherishen Teil meiner Natur noch einmal zusammen, wenn er auch bei dieser Gelegenheit rein sollte aufgebraucht werden." Große, empor-verlangende Seele! Wann sollte sie denn wohl ,,ganz frei", „von allem Unrat der Wirklichkeit rein gewaschen" sein? Wann denn hienieden würde der ätherische Teil seiner Natur sich flammend vom Menschen geschieden haben, um sich in diesem Gedicht zu verströmen? Die Idee ist völlig transzendent, dem Leben nicht angehörig, überirdisch, sie scheint einem seligen Geiste vorbehalten. Der Mann der Taten hat in den zehn Jahren Erdenlebens, die ihm blieben, an das Gedicht seines Traumes niemals die Künstlerhand gelegt, obgleich er sich „höchsten Genuß" davon versprach. Von dem ätherischen Teil seiner Natur hat er jedem der edelmütigen, wenn auch irdisch begrenzten Werke etwas vermacht, die er dem Leben noch gab, so daß sie alle davon einen Schimmer tragen. Aber der überirdische Werktraum von lauter Licht und Freiheit zeigt, wohin seine letzte Sehnsucht ging: nach Entkleidung vom Irdischen, nach Verklärung.
„Er glänzt uns vor, wie ein  Komet entschwindend, Unendlich Licht mit seinem Licht verbindend." Die Strophe, die diese Verse weihevoll beschließen, hat Goethe erst zehn   Jahre  nach  des  Freundes  Tod  dem   „Epilog  zur Glocke" hinzugefügt. Aber schon das berühmte „Denn hinter ihm in wesenlosem Scheine Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine" erwidert das hohe Sich-Unterordnen des Schillerschen Liebesliedes vom  „Glück".
Für Goethe, den Überlebenden, verklärt das Verhältnis, einst die Quelle mancher Ungeduld, sich mehr und mehr zu vollkommener Pietät, zu jenem „0 weh, errege nicht mein Sehnen", und einem „Ich kann, ich kann den Menschen nicht vergessen!" Und aus seinen letzten Lebensjahren stammt die Antwort, die er der Schwiegertochter Ottilie erteilte auf ihre Aussage, Schiller langweile sie oft. Da wandte er sein Gesicht hinweg und erwiderte: „Ihr seid alle viel zu armselig und irdisch für ihn."
Wir sollten uns alle fürchten vor dieser Gebärde, diesem strafenden Wort des alten Goethe und zusehen, daß wir uns nicht als allzu irdisch-armselig erweisen vor ihm, nach dessen Dasein an seiner Seite jener sich bis an sein Grab zurücksehnte.
Wie stark, bei neu durcharbeitender Beschäftigung mit seinem Werk, habe ich es empfunden, daß er, der Herr seiner Krankheit, unserer kranken Zeit zum Seelenarzt werden könnte, wenn sie sich recht auf ihn  besänne!
Wie wohl ein Organismus kränkeln, ja siechen mag, weil es ja in seiner Chemie an einem bestimmten Element, einem Lebensstoff, einem Vitamin mangelt, so ist es vielleicht genau dies unentbehrliche Etwas, das Element „Schiller", an dem es unserer Lebensökonomie, dem Organismus unserer Gesellschaft kümmerlich gebricht. So wollt es mir scheinen, als ich seine „Öffentliche Ankündigung der ,Hören'" wieder las, dieses herrliche Stück Prosa, worin er das auch seinerzeit schon ungemäß Dünkende zum Dringlichst-Zeitgemäßen erhebt, es zum Labsal macht jedem Leidenden. Je mehr, sagt er, das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setze, einenge und unterjoche, desto dringender werde das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sich wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. Während seine Zeitschrift, sagt er, sich alle Beziehungen auf den jetzigen Weltlauf und die nächsten Erwartungen der Menschheit verbiete, wolle sie über die vergangene Welt die Geschichte und über die kommende die Philosophie befragen, zu dem durch die Vernunft aufgegebenen, in der Erfahrung aber so leicht aus den Augen gerückten Ideal veredelter Menschheit einzelne Züge sammeln und arbeiten an dem stillen Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze und edlerer Sitten, von dem zuletzt alle Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes abhänge. „Wohlanständigkeit und Ordnung, Gerechtigkeit und Friede werden also der Geist und die Regel dieser Zeitschrift sein."
Hüten wir uns, solche Vorsätze schwächlich-ästhetizistisch zu nennen, zu meinen, sie hätten irgendetwas zu tun mit dem, was heute „escapism" heißt. Arbeit an der Nation, ihrer Moral und Bildung, ihrer seelischen Freiheit, ihrem intellektuellen Niveau, das sie in den Stand setzt, zu gewahren, daß andere, unter verschiedenen historischen Voraussetzungen, einem anderen sozialen Regiment Lebenden, auch Menschen sind; Arbeit an der Menschheit, welcher man Anstand und Ordnung, Gerechtigkeit und Friede wünscht statt gegenseitiger Anschwärzung, verwilderter Lüge und speiendem Haß, — das ist nicht Flucht aus der Wirklichkeit ins Müßig-Schöne, es ist bewahrender Dienst am Leben, der Wille, es zu heilen von Angst und Haß durch seelische Befreiung. Was dieser Mensch anstrebte mit dem Schwung des Redners, der Begeisterung des Dichters: das Universelle, Umfassende, rein Menschliche, ist ganzen Generationen als verblaßtes Ideal, als überholt, abgeschmackt, veraltet erschienen.  Schon  Carlyle in  seiner
sonst liebevollen Schiller-Biographie übte in diesem Punkt Kritik an seinem Helden, dessen Herz, gleich dem des Marquis Posa, „der gesamten Menschheit schlug, der Welt und allen kommenden Geschlechtern". Schiller hatte von „uns Neueren" gesprochen, im Gegensatz zu Griechen und Römern, als er „das vaterländische Interesse" für unreif und nur der Jugend der Welt geziemend erklärte. „Es ist", liest man bei ihm, „ein armseliges kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren, zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anderes?) nicht stillstehen; er kann sich nicht weiter dafür erwärmen, als soweit ihm diese Nation oder Nationalität-Begebenheit als Bedingung für den Fortschritt der Gattung wichtig ist." Gegen dies „Neuere" setzt Carlyle das Neueste. „Wir fordern", sagt er, „einen einzelnen Gegenstand für unsere Zuneigung. Das Gefühl, welches sich auf die ganze Menschheit erstreckt, wird eben dadurch, durch die große Ausdehnung so sehr geschwächt, daß es für den Einzelnen nicht wirksam ist... Allgemeine Menschenliebe gibt nur eine willkürliche und sehr schwache Verhaltungsmaßregel... Der erhabene, erleuchtete Enthusiasmus, der das Werk (Schillers Geschichtswerk) durchdringt, würde unser Herz mehr angesprochen haben, würde derselbe auf einen engeren Raum beschränkt." Sehen Sie, das ist führende Sprache, die Sprache eines Führenden, dem eine ganze Epoche Gefolgschaft leisten sollte, die Epoche des Nationalismus. Es ist— die Sprache von gestern. Denn die Wellen der Geistesgeschichte kommen und gehen, und wir erleben es heute, wie das Schicksal das Neue veralten läßt und das vermeintlich Abgelebte wieder zum Gedanken der Zeit beruft, es zu brennendster, vitalster Zeitgemäßheit erneuert, ihm eine Notwendigkeit auf Leben und Tod verleiht, wie es sie nie zuvor besaß. Wie steht es heute? Tief sinkt die nationale Idee, die Idee des „engeren Raumes", ins Gestrige ab. Von ihr aus, jeder fühlt es, ist kein Problem, kein politisches, ökonomisches, geistiges mehr zu lösen. Der universelle Aspekt ist die Forderung der Lebensstunde und unseres geängstigten Herzens, und längst hat der Gedanke an die Ehre der Menschheit, das Wort Humanität, die weiteste Teilnehmung, aufgehört, eine „schwache Verhaltungsregel" zu sein. Gerade dies umfassende Gefühl ist es, das not-, nur allzu nottut, und ohne daß die Menschheit als Ganzes sich auf sich selbst, auf ihre Ehre, das Geheimnis ihrer Würde besinnt, ist sie nicht moralisch nur, nein, physisch verloren. Das letzte Halbjahrhundert sah eine Regression des Menschlichen, einen Kulturschwund der unheimlichsten Art, einen Verlust an Bildung, Anstand, Rechtsgefühl, Treu und Glauben, jeder einfachsten Zuverlässigkeit, der beängstigt. Zwei Weltkriege haben, Roheit und Raffgier züchtend, das intellektuelle und moralische Niveau (die beiden gehören zusammen) tief gesenkt und eine Zerrüttung gefördert, die schlechte Gewähr bietet gegen den Sturz in einen dritten, der alles beenden würde. Wut und Angst, abergläubischer Haß, panischer Schrecken und wilde Verfolgungssucht beherrschen eine Menschheit, welcher der kosmische Raum gerade recht ist, strategische Basen darin anzulegen, und die die Sonnenkraft äfft, um Vernichtungswaffen frevlerisch daraus herzustellen. ,,Find' ich so den Menschen wieder, Dem wir unser Bild geliehn, Dessen schöngestalte Glieder Droben im Olympus blühn? Gaben wir ihm zum Besitze Nicht der Erde Götterschoß, Und auf seinem Königssitze Schweift er elend, heimatlos?" Das ist die Klage der Ceres im ,,Eleusischen Fest"; es ist Schillers Stimme. Ohne Gehör für seinen Aufruf zum stillen Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze, edlerer Sitten, ,,von dem zuletzt alle Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes abhängt", taumelt eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unterm Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergange entgegen. Meine Damen und Herren! Als man, November 1859, seinen hundertsten Geburtstag beging, hob ein Sturm der Begeisterung einigend Deutschland auf. Damals bot sich, so heißt es, der Welt ein Schauspiel, das die Geschichte noch nicht kannte: das immer zerrissene deutsche Volk in geschlossener Einheit durch ihn, seinen Dichter. Es war ein nationales Fest, und das sei das unsrige auch. Entgegen politischer Unnatur fühle das zweigeteilte Deutschland sich eins in seinem Namen. Aber ein anderes, größeres Vorzeichen noch muß die Zeit unserer Gedenkfeier verleihen: sie stehe im Zeichen universeller Teilnehmung nach dem Vorbild seiner hochherzigen Größe, die nach einem ewigen Bunde rief des Menschen mit der Erde, seinem mütterlichen Grund. Von seinem sanftgewaltigen Willen gehe durch das Fest seiner Grablegung und Auferstehung etwas in uns ein: von seinem Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht der Menschheit vor sich selbst.

Johannes R. Becher
Denn er ist unser: Friedrich Schiller der Dichter der Freiheit
Das erste Mal in der Geschichte unseres Volkes ist ,.auferstanden aus Ruinen" ein deutscher Staat, der die Grundlage geschaffen hat, um das Vermächtnis Friedrich Schillers zu erfüllen.
So bietet uns die Deutsche Demokratische Republik auch die beste Möglichkeit, unter Verzicht auf jedwede gewaltsame Konstruktion ein Bild Friedrich Schillers zu entwerfen, wie es der historischen Wirklichkeit gemäß ist. Denn, wie es bei Goethe heißt, ,,die Natur verstummt auf der Folter"; Persönlichkeiten von historischer Bedeutung ziehen sich gleichsam von uns zurück und versagen sich uns, wenn wir ihnen Gewalt antun und sie nach Maßstäben messen, die einer objektiven Gesetzlichkeit widersprechen. Friedrich Schiller ist der Dichter der Freiheit. Friedrich Schiller ist aber nicht nur der Dichter der oder jener Freiheit. Er fordert nicht nur Gedankenfreiheit und Freiheit der schönen Künste, sondern er mußte im Verlauf seines mit allem Schweren seiner Zeit beladenen Lebens auch erfahren, wie unlösbar die verschiedenen Arten menschlicher Freiheit miteinander verbunden sind, und daß die eine Freiheit die andere bedingt. Die Persönlichkeit bedarf zu ihrer Freiheit als Voraussetzung eine gesellschaftliche Ordnung, welche imstande ist, indem sie gleiche Entwicklungschancen bietet für alle, die Persönlichkeit in Freiheit zu setzen, und die Freiheit der Nation wiederum ist nur verbürgt dort, wo ein freies Volk herrscht.
Friedrich Schiller ist der Dichter der ganzen, gewaltigen, unteilbaren Menschenfreiheit.
Über Friedrich Schiller reden, heißt also über das sprechen, was uns Deutsche gerade heute besonders angeht: über das Problem der Freiheit. Über die Freiheit reden aber, wenn man von Friedrich Schiller spricht, heißt zugleich auch über die verschiedenen Arten der Freiheit im Zusammenhang sprechen und sich bemühen, nicht von der Freiheit im allgemeinen, von der Freiheit an sich zu sprechen als von einem vagen, abstrakten Gebilde, sondern von der Freiheit im besonderen und von ihrer konkreten historischen Bestimmtheit. „Eine einzige lebende Masse der Fäulnis und des abstoßenden Verfalls", so wird das Jahrhundert von Friedrich Engels gekennzeichnet, in dem Schiller aufwuchs, das ihm zur Gestaltung anvertraut war und woraus er als leuchtender Genius hervorging.
Wenn wir es nicht aus dem reichhaltigen Material, das uns über die Entwicklung Friedrich Schillers zur Verfügung steht, erfahren würden, so wäre wohl keiner so phantasielos, um sich    nicht   vorstellen    zu    können,    welch   ungeheuerliche Schwierigkeiten für die Dichter und Denker zu überwinden waren, um sich gegenüber diesen beschränkten Verhältnissen selbst behaupten und sich über sie erheben zu können, als Dichter und Denker der deutschen Nation, die nur in einer kühnen geschichtlichen Perspektive zu ahnen, nur als Vision, als Traumstaat sichtbar war.
Ein Jahrhundert zuvor war durch den Westfälischen Frieden der Dreißigjährige Krieg beendet worden, aber dieser Friede brachte nicht die deutsche Einheit. Während in England und in Frankreich das Bürgertum sich als Nation konstituierte, war Deutschland nach wie vorin seiner politischen und sozialen Zurückgebliebenheit ein wirres, provinzielles Vielländerreich, dessen Schranken und Grenzen, dessen Beschränkungen und Begrenztheiten viele der Besten entmutigten und niederdrückten, die es gewagt hatten, sich der Misere zu widersetzen.
Es wäre unhistorisch, wenn nicht unmenschlich, das Werk und die Persönlichkeit Friedrich Schillers zu betrachten, ohne die konkreten historischen Umstände zu berücksichtigen, unter denen es entstanden ist, und ebenso wäre es unhistorisch, wenn nicht unmenschlich, zu verlangen, daß das Werk und die Persönlichkeit Friedrich Schillers sich hätten unabhängig halten sollen von all den Widrigkeiten des Zeitalters. Und nur historisch und menschlich zugleich ist es, wenn wir verstehen, daß in dem unentwegten, heroischen Bestreben Schillers, die Misere zu überwinden, er auch immer wieder dieser Misere Opfer bringen mußte und ihr mitunter auch erlegen ist. Es würde der Größe dieses Mannes Abbruch tun, von ihm ein „reines", konfliktloses Bild zu zeichnen, wie es immer wieder geschehen ist, und ihn nicht als den zu zeigen, der er war, ist und bleibt, als eine der furchtlosesten Kämpfernaturen unseres deutschen Volkes mit einem aufgewühlten, zerrissenen Schlachtfeld in dereigenen Brust, worin sich das Dunkle und Helle, die ganze Problematik seines Jahrhunderts einen verzweifelten, unerbittlichen Kampf lieferten. Friedrich Schillers Freiheitssieg, Schillers grandioser Triumph bestand eben gerade darin, daß er die deutsche Misere immer wieder von neuem bewältigte und daß keine noch so bittere Enttäuschung, die er hinnehmen, keine noch so niederschmetternde Niederlage, die er erleiden mußte, ihn davon abzuhalten vermochte, den Kampf aufs neue mit unbändiger, alle Zögernden und Zaudernden überzeugenden und mitreißenden Energie wieder aufzunehmen und fortzusetzen, bis er physisch zusammenbrach. Aber auch noch in diesem physischen Zusammenbruch bewährte er sich in seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst und als der unermüdliche, auch die Nächte in den Tag verwandelnde Arbeiter, der er war. Er zwang seinen Willen, seinen Geist dem Körper auf, noch bis in dessen Zerfall hinein. Er war es, der das Huttenwort ,,lch hab's gewagt!" in seinem Werk gestaltete und dadurch die Aufrechten bestärkte und die Gebeugten und Niedergedrückten wieder aufrichtete.
Das edle Jünglingsantlitz, in welchem uns Schiller zu begegnen pflegt, täuscht nurallzu leicht hinweg über die strenge und harte Männlichkeit, wie sie unserem Dichter eigen war, über die Furchtlosigkeit und Angriffslust, über sein ungestümes Verlangen, Dichter und Richter in einem zu sein und sein Jahrhundert in die Schranken zu fordern. Überschwang und Disziplin, ungestümes Freiheitsbegehren und Bändigung des Gefühls, wenn es der Verstand erforderte, Verzücktheit im Reich des Schönen und wissenschaftliche, nüchterne Überlegung, klar berechnende Vernunft: welch ein Meister in der Beherrschung des Gegensätzlichen, mehr noch, welch eine geniale Schöpfernatur, die das Gegensätzliche zu vereinen vermochte und es zu einem wunderbaren Klingen brachte.
Aber die „einzig lebende Masse der Fäulnis und des absterbenden Verfalls", wie von Friedrich Engels Schillers Jahrhundert gekennzeichnet wird, wäre wohl kaum imstande-gewesen, zum großen Jahrhundert unserer Literatur zu werden und Goethe und Schiller hervorzubringen, wenn nicht ein mächtiges  Licht geleuchtet hätte in  dieser Finsternis.
Dieses mächtige Licht, das in der Finsternis erschien und in seinen alles durchdringenden Strahlungen zu einem Hoffnungsschimmer wurde in der deutschen Misere, war die Französische Revolution.
Die bürgerliche Aufklärung, wie sie sich in England und Frankreich zu einer mächtigen Bewegung entwickelt hatte, wurde zur Geburtshelferin des großen Jahrhunderts unserer Literatur, der Kunstperiode, unserer deutschen Klassik. Die Französische Revolution, das war das Gesetz, nach dem die deutsche Klassik angetreten war, das sie zu erfüllen hatte in der Vermittlung des Geistes der Aufklärung, in der Wiederbelebung und in der Übernahme des Besten, was je in deutschen Landen geschaffen wurde und im deutschen Volke verborgen war, um dadurch eine bürgerliche Revolution vorzubereiten, welche in der Einigung aller Deutschen und der Schaffung eines Zentralstaates, einer deutschen Nation ihre historische Sendung zu verwirklichen  hatte.
Alle Versuche, wie sie immer wieder mit einer verdächtigen Aufdringlichkeit unternommen werden, der deutschen Klassik diese ihre historische Position zu entziehen und sie sozusagen auf sich selber zu stellen, zielen nur darauf ab, die Klassik ihrer eigentlichen geschichtlichen Substanz zu berauben, während dieses große Jahrhundert unserer Literatur für uns nach wie vor von höchster aktueller Bedeutung ist und eine der wichtigsten  Lehren  unserer Geschichte enthält.
Die Zeit war überreif, um die deutschen Zustände grundlegend zu verändern. Das bewies der auf einer deutschen Bühne noch nicht erlebte Beifall, mit dem Schillers Dramen begrüßt wurden. Es waren Ovationen, die mehr als nur der dramatischen und theatralischen Leistung galten. In Schillers Werken schien sich die Sehnsucht der deutschen Menschen in einer noch nie gehörten Sprache zu offenbaren. Das persönliche Freiheitsgefühl des Dichters verband sich mit der sozialen Anklage gegen die gesellschaftlichen Mißstände, und diese Anklage wiederum erhob sich zum nationalen Protest. Es ist charakteristisch für Schiller, daß für ihn sein persönliches Freiheitserlebnis untrennbar verbunden war mit dem, was geschichtlich notwendig war, oder, wie sich Goethe ausgedrückt hat, mit der „Forderung des Jahrhunderts". Freiheit war für ihn Übereinstimmung, und niemals die Sucht, sich anarchisch auszuleben und nach Belieben und Willkür zu verfahren. Freiheit war ihm erkannte Notwendigkeit in dem Sinne, daß er persönlich sich frei fühlte nur dann, wenn er zu erkennen vermochte, wie die ganze große Not zu wenden sei und wenn diese Notwendigkeit auch ihm, seiner Tatkraft eine Aufgabe stellte. Es galt ihm für die Pflicht eines jeden:
,,Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an."
Als er seine schwäbische Heimat verlassen mußte, um den Schikanen und Verfolgungen seines Landesherrn zu entgehen, betrachtete er diese Flucht nicht einzig und allein als einen Akt gegen die Person des Tyrannen gerichtet, sondern als eine Kampfansage gegen den Despotismus und als einen Ausbruch aus dessen System selbst. Er schrieb:
,,Einen Tyrannen zu hassen vermögen auch knechtische Seelen, Nur wer die Tyrannei hasset, ist edel und groß."
Darum verlangte er persönliche Freiheit, weil er fühlte, daß er im Dienst eines vaterländischen Auftrages auszusagen, zu dichten und zu handeln habe, und daß er und sein Volk eins seien.
Es ist darum nur folgerichtig, wenn er der Dichtung, der dramatischen vor allem, einen hervorragenden Platz im Prozeß der Herausbildung einer Nation zuwies. Während Lessing in der ,,Hamburger Dramaturgie" den Einfall, den Deutschen ein    Nationaltheater   zu    verschaffen,   einen    „gutherzigen" nannte, da die Deutschen noch keine Nation seien, vertritt dagegen Schiller in seiner nicht zu Ende geführten ,,Mannheimer Dramaturgie" den Standpunkt, daß es gerade die Aufgabe der Nationalbühne und der Nationalliteratur sei, die Herausbildung einer Nation zu fördern. Wir haben davon gesprochen, wie Schiller es versteht, die verschiedenen Arten der Freiheit miteinander zu verbinden und aufeinander abzustimmen. Er weiß, was es mit der Würde des Menschen auf sich hat, und so ruft er seinen Zeitgenossen zu:
„Nichts  mehr davon,  ich  bitt' euch. Zu essen  gebt ihm, zu
wohnen; Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde vo8n selbst."
Wenn es bei ihm heißt: ,,Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an ...", so läßt er uns im Verlauf seines dramatischen Werkes nicht einen Augenblick lang im Zweifel, welch eine Art von Vaterland er meint, nämlich einzig und allein ein solches, an dem das Volk materiell und rechtlich teil hat und dessen Verteidigung es als seine ureigenste, vaterländische Pflicht betrachtet.
Für Schiller stellt sich sein Werk dar als ein sozialer und nationaler Befreiungsakt, und sein höchstes Glück war, sein persönliches Freiheitsgefühl erlebte er darin, seinem Volk diese Freiheiten mitzuerkämpfen. Ein Mensch wird frei in dem Maße, als er anderen Menschen zur Freiheit verhilft, und nur in diesem brüderlichen Angewiesensein aller aufeinander entsteht Freiheit. Es ist bekannt, daß Schiller in der Gestaltung seines Freiheitsbegriffs, der solch ein ganzer, gewaltiger, unteilbarer, alle anderen Freiheiten umfassender war, keineswegs der Frage ausgewichen ist, ob es rechtens sei oder nicht, das Vaterland, das Volkes eigen ist, auch mit der Waffe zu verteidigen. Nirgendwo hat Schiller, weder in seinen Dramen noch in seinen ästhetischen Schriften oder in seinen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, diese Lebensfrage des Volkes anders beantwortet als mit jenen Worten Stauffachers aus „Wilhelm Teil":
,,Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben — Der Güter höchstes dürfen wir verteidigen Gegen Gewalt — Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!"
Die spätere Übersiedlung Friedrich Schillers nach Jena und Weimar ist nicht nur kein Bruch im Werk und in der Persönlichkeit des Dichters, sondern die freundschaftliche Nähe Goethes
wird ihm zum Anlaß, in der Bereicherung und Vertiefung seiner Fähigkeiten sich zu dem größten deutschen Dramatiker zu entwickeln, der er war und bis heute geblieben ist. Eine solche Entwicklung setzt aber im Dichter selber voraus, was Schiller immer wieder betont hat, den Willen zum Hohen, zum Allerhöchsten, und setzt voraus, sich mit dem Erreichten niemals zufrieden zu geben. Schiller ist das Beispiel eines Dichters, der schonungslos an sich außerordentliche Ansprüche stellt, vor keiner Unmöglichkeit der äußeren Umstände oder seiner eigenen Natur zurückschreckt und für den jedes Hindernis nur dazu da ist, um seine Leistungen zu steigern und sich zu übertreffen.
Die Bereicherung und Vertiefung des künstlerischen Schaffens kommt bei Schiller aber auch zum Ausdruck in der meisterhaften Beherrschung einer Vielfalt literarischer Formen und Gattungen und nicht zuletzt auch in der Beschäftigung mit den  Problemen der Ästhetik.
Das Bemühen um die Ergründung einer ästhetischen Gesetzlichkeit war für Schiller und Goethe lebensnotwendig für das Schicksal der deutschen Literatur und ihrer nationalen Sendung.
Für Schiller und Goethe bestand das Problem der Freiheit in der Kunst nicht nur darin, sich gegen die Ungunst der Verhältnisse und gegen den Zensor zu verteidigen. Zu solch einer wirksamen Verteidigung bedurfte die Kunst auch einer inneren Freiheit. Die Kunst mußte befreit werden von der Regellosigkeit und Zuchtlosigkeit, wie sie in ihrem Bereich herrschten.
Schiller und Goethe sind sich darin eins, daß die Fragen der Form, der Genres, der Literaturgattungen nicht irgendwelche willkürlichen Erfindungen sind, sondern daß es sich hier um objektive Kategorien handelt, um Gesetzmäßigkeiten, die zu entdecken und zu meistern der Kunst erst die Möglichkeit bietet, sich „frei im Stoff zu bewegen". Indem Schiller und Goethe Ordnung brachten in die literarischen Begriffe und die Genres voneinander abgrenzten, haben sie der deutschen Literatur erst die Möglichkeit gegeben, sich in der ganzen Vielfältigkeit und Reichhaltigkeit ihrer Formen zu entfalten, und sie dadurch instand gesetzt, neue Inhalte in sich aufzunehmen und zu gestalten.
Ebenso wie Schillers Beschäftigung mit ästhetischen Problemen nötig war, um die Dichtung in Freiheit zu setzen, so waren die geschichtswissenschaftlichen Studien, die er betrieb, ein lebensnotwendiger Teil seines dichterischen Auftrags. Friedrich Schiller, der Dichter der Freiheit, hatte schon frühzeitig erkannt, und zu diesem Zweck studierte er Universalgeschichte, daß die Geschichte eines Volkes eine Fülle von Erfahrungen in sich birgt, aus denen ein Volk Lehren zu ziehen hat, will es nicht in einem geschichtslosen Dämmerzustand beharren und am Ende untergehen. Schiller erfuhr, daß Geschichte mit zur Literatur gehört und daß keine große Literatur sich entwickeln kann, welche nicht auf eine Geschichte zurückzugreifen vermag und der nicht das Große in der Literatur anvertraut ist.
Der Blick für Geschichte, das hatte Schiller richtig erkannt, schärft den Blick für das Gegenwärtige und läßt unseren Blick dringen auch in die Zukunft. Die Geschichte lehrt uns Gesetzmäßigkeit, aus der Geschichte ziehen wir Maß und Wert, die Geschichte konfrontiert uns mit dem Besten, was ein Volk hervorgebracht hat, aber auch mit seiner Not und seinem Elend, mit seiner Schmach und seiner Schande. Das Studium der Geschichte unterstützt Schiller bei seinem Bemühen um die konkrete Bestimmtheit des Gegenständlichen, und aus der Geschichte erwächst ihm jener — man darf ihn wohl so nennen — „heilige Optimismus", der Schiller vor allen anderen Dichtern auszeichnet und der ihm solch eine großartige Perspektive eröffnet wie diese:
„Erhebet euch mit kühnem Flügel Hoch über euren Zeitenlauf, Fern dämmert schon in eurem Spiegel Das kommende Jahrhundert auf!"
Die Tragik Friedrich Schillers beginnt, wenn wir sie auf ihre geschichtlichen Wurzeln zurückverfolgen, mit der Besiegelung der Niederlage des Bauernkriegs. Schülers Tragik ist die deutsche Tragödie. Die Folge der Niederlage im Bauernkrieg war zunächst der Dreißigjährige Krieg, die große deutsche Not- und Sterbenszeit, wenn auch die Renaissance Dichter und Denker von dem alsbaldigen Anbruch eines humanistischen Menschenzeitalters träumen iieß. Das Jubelgeläute anläßlich des Westfälischen Friedens aber verklang in einer Alltäglichkeit, die grau und bedrückend war. Für Friedrich II. war, in seiner preußischen Beschränktheit, Deutschland nicht einmal mehr ein sprachlicher Begriff, sondern nur noch eine Modetorheit, eine Fiktion von Schwarmgeistern, die er mit Spott abfertigte. Was darauf folgte: Ruf der Marseillaise, die nicht das Echo bei den Deutschen fand, um die vielen Bastillen zu stürmen. Und eine Elite wartete auf ihre Zeit und war verurteilt zum Warten. Nachdem die Deutschen nicht die Kraft hatten, angesichts der Französischen Revolution ihre Tragödie zu überwinden, vertiefte sich auch Schillers Tragik, der seiner-seites alles unternommen hatte, um seinem Volke, in dem Bestreben, ein freies Reich deutscher Nation zu gründen, Kraft und Mut zu verleihen.
Viel von dem, was Schiller bereits erreicht hatte, wurde inzwischen preisgegeben. Auch Goethe vermochte nicht, für Schiller Trost und Hilfe in dessen Einsamkeit zu finden. Die Lebensfreundschaft zu dem Dresdner Oberkonsistorialrat Körner, die so wesentlich zu seiner Ermutigung immer wieder beigetragen hatte, konnte Schiller nicht über die Ungunst der Verhältnisse hinwegtäuschen, nicht darüber, daß die große Stunde seines Lebens, auf die er so leidenschaftlich hoffte wie kaum einer seiner Zeit, auf sich warten und warten ließ und ausblieb.
Schiller mußte sich wieder und wieder seiner Haut wehren und fiel dabei in seinem Martyrium der Versuchung anheim, in ein von der Wirklichkeit losgelöstes, ideelles Reich des Schönen zu fliehen und die platte Misere, wie Engels bemerkt, mit der überschwenglichen zu vertauschen. Er klagte:
„Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur im Gesang."
Wohin er seinen Blick richtete, fand er unter den Deutschen keine politische Bewegung, die imstande gewesen wäre, das Erbe des Bauernkrieges, das Erbe des niederländischen Befreiungskampfes, das Erbe der Französischen Revolution anzutreten. Schiller floh nicht in die Antike, das Studium der Griechen war für ihn ebensowenig Selbstzweck wie das der Geschichte. Schiller wollte Zeit gewinnen und bis dorthin wollte er das Beste nutzen und an sich ziehen, was die Welt zu vergeben hatte. Schiller war davon überzeugt, daß die Persönlichkeit des Dichters, daß es dessen allseitig ausgebildeter Charakter ist, der große Literatur hervorbringt, und daß im Wettstreit der verschiedenen Dichter und der literarischen Richtungen untereinander der Vorrang denen gebührt, die den anderen weltanschaulich überlegen sind, wobei dieser weltanschaulichen Überlegenheit selbstredend auch die Meisterschaft der künstlerischen Gestaltung immanent ist.
Das, worauf Schiller wartete, diese seine eigentliche hohe Lebensstunde, war der Aufbruch seines Volkes zum Kampf um Einheit und Freiheit, und in dieser Aufbruchsstimmung verharrte er, glühte er bis an sein Lebensende. Schiller wartete darauf, daß der klassischen Literatur, der Kunstperiode, eine klassische Politik folgen werde.
Schillers Tragik reicht über seinen Tod hinaus. In dem Maße, wie die deutsche Tragödie eine immer unheimlichere Gestait annahm, um endlich zur Bedrohung aller friedliebenden Völker zu werden, wuchs auch Schillers Tragödie in einem Maße, wie sie kein anderer deutscher Dichter erleben mußte. Die Pflege der deutschen Sprache, die Schiller in ihrem ganzen Wortreichtum und in ihrer unwiderstehlichen Wortkraft durch
die Bühne seinem Volke nahegebracht hatte, wurde vernachlässigt,und man brüstete sich geradezu damit, ein ungepflegtes, gestammeltes, naturalistisches Deutsch zu sprechen. Die Ordnung, die Schiller und Goethe im Reich der Dichtung geschaffen hatten, wurde aufgelöst und in einem wüsten Durcheinander aller Genres ein neuer literarischer Stil kreiert. Goethe wurde zum jovialen Olympier, der, auf seinem erdfernen Wolkensitz thronend, jedwedem recht gab und allen das Ihre ließ; Hölderlin, mißdeutet und als ein lebensunfähiger Tor belächelt, blieb ohne Wirkung, unschädlich gemacht in seinem Turm in Tübingen; Heinrich Heine, verschwiegen und verlästert, wurde nicht zu den Dichtern deutscher Nation gezählt; Gottfried Keller, als Idylliker beachtet, Sonderling mit Sonne im Herzen, wenn auch immerhin anrüchig gewisser politisch verwerflicher demokratischer Neigungen wegen. Aber Schillers Tragik war unvergleichlich. Denn Schillers Werk war eine Macht besonderer Art, deren man sich versichern mußte.
Kein politisches Verbrechen wurde begangen, ohne seinen Namen dafür in Anspruch zu nehmen. Von Kindheit an wurde dem Deutschen ein verlogenes Schillerbild mit dem Prügelstock beigebracht, das ihn gefügig machen sollte, der Gewaltherrschaft als einem Gottesgnadentum sich zu unterwerfen. Schiller wurde gesellschaftsfähig, Schiller wurde salonfähig, Schiller wurde hoffähig. Er wurde zum Einrichtungsgegenstand der „guten Stube", zum phraseologischen Bestandteil der chauvinistischen Rüstkammer. Schillers Büste wurde aufgestellt zu „Deutschland über alles!" Es dauerte eine Zeit, bis diejenigen sich Gehör verschaffen konnten, die das Erbe Schillers unverfälscht und lebendig bewahrt hatten. Es war Robert Blum, der Leipziger Buchhändler, der 1840 das erste Schillerkomitee in Leipzig gründete und in der Wohnung des Dichters in Gohlis eine nationale Gedenkstätte errichtete. Es war Friedrich Engels, der die Ehre Friedrich Schillers rettete, und im März 1848, als die Barrikaden in den Straßen Berlins errichtet wurden, fand eine Aufführung vom ,,Tell" statt. Die Tragik Schillers und die deutsche Tragödie nahmen eine Wendung, seit die Arbeiterklasse als ein politischer Machtfaktor die Ereignisse in Deutschland maßgeblich beeinflußte. Wir haben es Franz Mehring zu danken, wenn er in seinen Beiträgen zur

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ArtikelnummerLitera (Eterna) 860 013 - 8 60 014
ProduktnameThomas Mann & Johannes R. Becher - Ansprachen Zum Schillerjahr 1955
Preis24,90 €
LieferzeitIm Schallplattenladen Stralsund
InterpretThomas Mann & Johannes R. Becher
Name - TitelAnsprachen Zum Schillerjahr 1955
LabelLitera
MedientypLP / Vinyl 12"
Vinylgewicht pro Schallplatte140 gramm
Anzahl der Platten2
BeilagenKeine
Release-Datum1955
Allgemeiner PlattenzustandGebraucht
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