Maurice Ravel: Sonatine - Helène Boschi, Klavier

Maurice Ravel: Sonatine (1905)
Maurice RAVEL (1875—1937) war einer der ersten, der die Gefahren des musikalischen Impressionismus mit seinen Auflösungserscheinungen erkannte, deren Bewältigung einzig Debussys genialer Kunst gelungen war. Die frühen Werke Ravels sind noch auffallend dem Stile des verehrten Meisters verpflichtet. Mit den „Miroirs" und der vorliegenden SONATINE — beide 1905 geschrieben — zeigt sich Ravel auf einer neuen Stufe seiner Entwicklung: Äußerste Zurückhaltung in der Darstellung seelischer Vorgänge, eine geradezu intellektuelle Nüchternheit bricht sich Bahn. Besonders der Klavierstil weist eine neuartige, immer glänzendere und rational virtuose Behandlung auf. Der Klaviersatz ist kräftiger geworden, die Harmonik vielseitig erweitert, ohne die Durchsichtigkeit des Klangbildes zu beeinträchtigen. Oft greift Ravel — wie auch in der Sonatine — auf traditionelle Stileigentümlichkeiten zurück, hier auf die der alten Clavecinisten. Die schöpferischen Impulse dieser spielfreudigen Vergangenheit mischen sich bei Ravel in starkem Maße mit Einflüssen französischer und vor allem spanischer Folklore. In der Sonatine spiegelt sich der ganze Ravel in der Schärfe seiner Gedanken, einem selbstbewußten, mitunter sogar schroffen Charakter, seiner Neigung zum Malerischen und seinem oft etwas nüchternen Humor.
Die Sonatine wurde anläßlich des öffentlichen Wettbewerbes einer Musikzeitschrift komponiert und hat beim Publikum wegen ihres feurigen und melancholischen Charaktere rasch große Popularität erlangt.
Der erste Satz, „Modere", hat energischen Schwung, die Struktur ist von einer Klarheit, die durch die Geschmeidigkeit der Melodik eher unterstrichen als gemindert wird. Das Betonen der Form zwingt Ravel zu einem knappen Sonatensatz von klassischer Strenge. Von zarter Lyrik getragen ist der zweite Satz, ein wehmütiges „Menuet", deren naiv-verhaltene Melodie von immer neuen Klangbildern eines phantasievollen, weitgriffigen Klaviersatzes eingebettet ist. Der Finalsatz, „Anime", vibriert von der Unruhe südlicher Vitalität. Durch Reminiszenzen an den ersten Satz wird die Einheitlichkeit der thematischen Substanz des Werkes noch besonders unterstrichen.
Dieter-Gerh. Worm